Betrachtungstext: Karfreitag

Jesus nahm sein Leiden aus Liebe zu uns auf sich – Christus in seinem Todeskampf begleiten – Im Kreuz finden wir unsere Zuflucht und unsere Rettung

MEIN GOTT, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mt 27,46). „Jesus erlebte die totale Verlassenheit, die ihm an sich ganz fremd ist“, erläutert Papst Franziskus den Hilfeschrei des Herrn, „um mit uns vollkommen solidarisch zu sein. Das hat er für mich getan, für dich, für uns alle; er hat es getan, um uns zu sagen: ,Hab keine Angst, du bist nicht allein. Ich habe all deine Trostlosigkeit erlebt, um immer an deiner Seite zu sein.‘1 Christus bedrückt vor allem das Leid, das wir Männer und Frauen aller Zeiten als Frucht der Sünde erfahren: Töchter Jerusalems, weint nicht über mich; weint vielmehr über euch und über eure Kinder! (Lk 23,28).

Es gibt keinen Schmerz, der Christus von seinem Verlangen, uns zu retten, abbringen könnte. Er hat dabei jeden einzelnen Menschen vor Augen, wie Papst Benedikt sagte: „Seine durchbohrten Arme öffnen sich für jeden Menschen und laden uns ein, uns ihm in der Gewissheit zu nähern, dass er uns aufnimmt und in einer Umarmung von unendlicher Zärtlichkeit an sich zieht.“2 Die Karfreitagsliturgie beginnt mit der Niederwerfung des Priesters auf den Boden. Es ist die Körperhaltung Jesu im Ölgarten. Alle Sünden der Menschen, ihr Leid und ihre Einsamkeit, auch die unseren, lasten auf ihm, und so wendet er sich an Gott Vater, um von ihm die Kraft zu erhalten, diesen entscheidenden Schritt zu tun.

Jesus kam in die Welt, um für das Böse zu sühnen, das wir uns selbst und anderen angetan haben. Er will uns die Freiheit und die Freude zurückgeben. Seine Freude an uns kennt keine Grenzen, deshalb ist sein Joch sanft und seine Last leicht (Mt 11,30). Unsere Sünden haben nicht das letzte Wort, wenn wir zulassen, dass Jesus spricht, dass er uns sagt, dass er uns liebt und dass er uns für so viel Leid keinen Vorwurf macht. Heute erinnern wir uns mit dem heiligen Josefmaria daran, dass „Jesus gefallen ist, damit wir uns erheben: einmal und immer wieder“3.


EINER DER GRÜNDE für die Sünde liegt darin, dass wir fälschlicherweise das Gefühl haben, Gottes Wille gefährde unsere Freiheit. So war es beispielsweise bei Adam, unserem Urvater. Doch der Wille Gottes ist, dass wir glücklich sind, dass wir uns von ihm lieben lassen. „Frei sind wir erst, wenn wir in unserer Wahrheit sind, wenn wir eins mit Gott sind“, stellte Papst Benedikt dieses verbreitete Missverständnis richtig. „Dann werden wir wirklich ,wie Gott‘ – nicht indem wir uns Gott entgegensetzen, ihn abschaffen oder leugnen. Im ringenden Gebet des Ölbergs hat Jesus den falschen Gegensatz zwischen Gehorsam und Freiheit aufgelöst und den Weg in die Freiheit eröffnet. Bitten wir den Herrn, dass er uns in dieses Ja zum Willen Gottes hineinführt und uns so wahrhaft frei werden lässt.“4

Wie sehr wollen wir dem Herrn für sein Opfer danken, das er freiwillig auf sich genommen hat, um uns vom Tod zu befreien! Jesus Christus tritt in den Todeskampf ein und schwitzt sogar Blut; doch sein Vertrauen in seinen Vater wankt nicht, er betet immer wieder. Er kommt zu uns, die wir schlafen, wie der heilige Josefmaria schrieb: „Er kommt herüber zu uns, die wir schlafen: Steht auf und betet, bittet Er uns erneut, damit ihr nicht in Versuchung geratet(Lk 22,46).“5 Stunden später schlägt die Furie der Sünden der gesamten Menschheit auf den unschuldigen Leib Jesu Christi ein. Die Undankbarkeit unserer Herzen umgibt den Herrn in seiner Einsamkeit. „Du und ich, wir können nicht sprechen“, hält der heilige Josefmaria die Grausamkeit der Szene fest. „Worte sind überflüssig. – Sieh ihn an, sieh ihn an ... und wende deine Augen nicht ab.“6

Manchmal scheint es uns“, predigte Papst Franziskus nach einem Kreuzweggebet im Kolosseum, „als antworte Gott nicht auf das Böse, als verharre er im Schweigen. In Wirklichkeit hat Gott gesprochen, er hat geantwortet, und seine Antwort ist das Kreuz Christi: ein Wort, das Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung ist. Es ist auch Gericht: Gott richtet uns, indem er uns liebt. Erinnern wir uns daran: Gott richtet uns, indem er uns liebt. Wenn ich seine Liebe annehme, bin ich gerettet, wenn ich sie ablehne, bin ich verurteilt, nicht von ihm, sondern von mir selbst, denn Gott verurteilt nicht, er liebt nur und rettet.7


DIE WUNDEN des Herrn, aus denen sein kostbares Blut in Strömen floss, werden eine heilsame Zuflucht für unsere Wunden sein. In den Wunden Christi sind wir sicher. Durchtränkt von seinem erlösenden Blut, berauscht von Gott, haben wir nichts zu befürchten. „Wenn wir die heiligste Menschheit Jesu betrachten und wahrhaft lieben“, schrieb der heilige Josefmaria, „dann werden wir auch nach und nach seine Wunden entdecken. Und (...) wir verlangen danach, uns in jede einzelne dieser heiligsten Wunden hinein zu versetzen, uns in ihnen rein zu waschen und uns voll tiefer Freude in der erlösenden Kraft seines Blutes zu stärken. Gleich den Tauben, die sich, wie die Heilige Schrift sagt (vgl. Hld 2,14), bei Unwetter in den Felsspalten bergen, so suchen und bergen wir uns an diesem Zufluchtsort der Vertrautheit mit Christus.8

Und bei dieser Betrachtung fällt es uns leicht, das herbe Zartgefühl zu verkosten, mit dem die Kirche heute singt: „Teures Holz, teure Nägel, die ihr eine teure Last tragt.“9 Das Kreuz ist, so Papst Benedikt, „das leuchtende Zeichen der Liebe, ja, der Weite der Liebe Gottes, Zeichen dessen, was wir nie hätten erbitten, erdenken oder erhoffen können: Gott hat sich zu uns herabgeneigt, er hat sich erniedrigt bis hinein in den dunkelsten Winkel unseres Daseins, um uns die Hand zu reichen und uns an sich zu ziehen, uns bis zu sich selbst hinaufzutragen.“10 Das ist die Wahrheit des Karfreitags: Am Kreuz hat Christus, unser Erlöser, uns die Würde zurückgegeben, die uns zukommt. Es festigt sich unser Wunsch, uns bereitwillig ans Kreuz zu heften, uns mit seiner Erlösung zu verbinden und mit dem Blut, das vom Leib Jesu herabströmt, unsere Schwachheit zu reinigen.

Am Ende dieser Weile des Gebetes richtet sich unser Blick auf den Fuß des Kreuzes, wo sich die trauernde Mutter in Begleitung einiger Frauen und eines Jugendlichen befindet. Diejenigen, die diese Todesstunde durchgestanden haben, wissen, dass es keinen vergleichbaren Schmerz gibt. Christus brauchte sie in diesem Moment an seiner Seite, und wir brauchen sie noch mehr.


1 Franziskus, Predigt, 5.4.2020.

2 Benedikt XVI., Worte nach dem Kreuzweg am Kolosseum, 21.3.2008.

3 Hl.Josefmaria, Kreuzweg, III. Station.

4 Benedikt XVI., Predigt, 5.4.2012.

5 Hl. Josefmaria, Der Rosenkranz, Die schmerzensreichen Geheimnisse, Die Todesangst im Ölgarten, Nr. 6.

6 Ebd., Nr. 7.

7 Franziskus, Worte nach dem Kreuzweg am Kolosseum, 29.3.2013.

8 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 302.

9 Bei der Kreuzverehrung, Hymnus Crux fidelis.

10 Benedikt XVI., Worte nach dem Kreuzweg am Kolosseum, 22.4.2011.