Betrachtungstext: 5. Osterwoche – Donnerstag

Wie Christus uns geliebt hat – Die Liebe im Laufe der Zeit erneuern – In der Gegenwart lieben

IN SEINER Abschiedsrede beim Letzten Abendmahl bekennt Jesus: Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt (Joh 15,9). Die Apostel haben diese Worte wohl nicht zur Gänze verstanden, da die Passion des Herrn noch bevorstand. Später wird sie die Selbsthingabe Gottes bis zum Tod zutiefst erschüttern, dieses gewaltige Geheimnis, das unser Fassungsvermögen übersteigt. „Jesus hat sich freiwillig dem Tod ausgeliefert, um der Liebe Gottes, des Vaters, zu entsprechen, in vollkommener Einheit mit seinem Willen, um seine Liebe zu uns zu beweisen. Am Kreuz hat Jesus mich geliebt und sich für mich hingegeben (Gal 2,20). Jeder von uns kann sagen: Er hat mich geliebt und sich für mich hingegeben. (...) Was bedeutet all das für uns? Es bedeutet, dass dies auch mein (...) Weg ist“1, gibt Papst Franziskus zu bedenken.

Wie wir es vor einigen Wochen im österlichen Triduum selbst erlebt haben, hat Jesus „nicht nur gesprochen“, so Worte Papst Benedikts, „uns nicht nur Worte hinterlassen. Er gibt sich selbst. Er wäscht uns mit der heiligen Kraft seines Blutes, das heißt mit seiner bis ans Ende, bis ans Kreuz reichenden Hingabe. Sein Wort ist mehr als Rede, es ist Fleisch und Blut für das Leben der Welt (Joh 6,51). In den heiligen Sakramenten kniet der Herr immer wieder zu unseren Füßen und reinigt uns. Bitten wir ihn, dass wir von dem heiligen Bad seiner Liebe immer tiefer durchdrungen und so wahrhaft gereinigt werden.“2

Das christliche Leben führt uns dahin, die anderen lieben und ihnen dienen zu wollen, wie Christus es getan hat. Uns gänzlich, entschlossen und großzügig zu verschenken. Am Ende wird einzig wichtig sein, wie viel und wie wir in der Zeit geliebt haben, die uns in dieser Welt zur Verfügung stand. Dabei sind uns unsere Grenzen wohl bewusst: Ohne Gottes Hilfe sind wir zu einer solchen Liebe nicht fähig. Diese Aufgabe, wie Christus zu lieben, ist stets neu, „in dem Sinne, dass wir es nie umfassend erfüllen“, schreibt Prälat Ocáriz in einer Kurzbetrachtung. „Wir schaffen es nicht zu lieben, wie ich euch geliebt habe, denn wer das sagt, ist die unendliche Liebe, die Liebe selbst.“3 Wir brauchen es, dass Christus uns entzündet und uns sein eigenes Leben schenkt, seine Fähigkeit, bis zum Ende zu lieben.


IN DER SZENE, die uns das Evangelium heute vorlegt, fährt der Herr fort, von seinem Ruf an uns, von seiner Vorliebe für uns zu reden, er will uns immer in seiner Nähe haben: Bleibt in meiner Liebe (Joh 15,9). Die Liebe Gottes zu uns ist die Basis unseres Lebens und unserer Fähigkeit zu lieben. Er hat unser spezifisches Temperament, unser Umfeld, unsere Freiheit, unsere Fähigkeiten gewollt und rechnet auch mit unseren Grenzen und Mängeln. Bei dieser ersten Liebe zu bleiben, bedeutet, die für junge Menschen so charakteristische Unruhe des Herzens aufrechtzuerhalten, auch wenn die Zeit vergeht.

Auf der Reise des Lebens können wir das Verlangen des Herzens spüren, die Liebe auszuweiten, die wir erhalten und geben. Vielleicht finden wir sie in den vielen guten Dingen dieser Welt: in der Natur, in den Freundschaften, in der Schönheit des Wahren und so weiter. Die Sehnsucht, die sich in solchen Momenten äußert, weist aber auf etwas Größeres hin, denn wir stellen fest, dass dies alles zwar edle Wirklichkeiten sind, jedoch nicht ausreichen, um unser Verlangen zu stillen. „In der Tat: Es ist Jesus, den ihr sucht, wenn ihr vom Glück träumt“, pflichtet der heilige Johannes Paul II. diesem Sehnen bei. „Er ist es, der auf euch wartet, wenn euch nichts von dem zufriedenstellt, was ihr vorfindet; er ist die Schönheit, die euch so anzieht; er ist es, der euch herausfordert mit jenem Durst nach Radikalität, der es euch verbietet, ein angepasstes Leben zu führen; er ist es, der euch dazu drängt, die Masken abzulegen, die das Leben verfälschen; er ist es, der euch im Herzen die wahren Entscheidungen liest, die andere ersticken wollten. Jesus hat in euch die Sehnsucht entfacht, aus eurem Leben etwas Großes zu machen; den Willen, einem Ideal zu folgen; die Weigerung, euch von der Mittelmäßigkeit einfangen zu lassen; den Mut, euch in Demut und Treue darum zu mühen, euch selbst und die Gesellschaft besser zu machen, damit sie menschlicher und geschwisterlicher werde.“4

Der heilige Josefmaria sagte, dass die Freiheit die Liebe immer wieder erneuert, „und sich erneuern heißt, immer jung sein, mit einem weiten Herzen, zu großen Idealen und großen Opfern fähig. Wie sehr habe ich mich gefreut, als ich zum ersten Mal hörte, dass die jungen Leute auf portugiesisch os novos, ,die Neuen‘, genannt werden, denn das sind sie. Ich erzähle euch das, weil ich schon viele Lebensjahre hinter mir habe; aber wenn ich an den Stufen des Altares bete zu Gott, der meine Jugend erfreut (Ps 42,4), dann fühle ich mich trotzdem sehr jung und weiß, dass ich mich niemals alt fühlen werde. Denn wenn ich meinem Gott treu bleibe, wird die Liebe mein Leben immer wieder erneuern. Wie es im Psalm heißt: Wie dem Adler wird dir die Jugend erneuert (vgl. Ps 103,5).“5


SEIT DER HERR intensiver in unser Leben eingetreten ist, versuchen wir, ihm mit der Begeisterung der Apostel nachzufolgen; sie haben den wahren Sinn ihres Lebens entdeckt und sind sofort aufgebrochen. „Warum sofort?“, fragt Papst Franziskus und antwortet: „Einfach weil sie sich angezogen fühlten. Sie waren nicht deswegen schnell bereit, weil sie einen Befehl erhielten, sondern weil sie von der Liebe angezogen wurden. Um Jesus nachzufolgen, reichen nicht die guten Einsätze; vielmehr muss man jeden Tag auf seinen Ruf hören. Nur er, der uns kennt und bis zum Äußersten liebt, lässt uns auf die offene See des Lebens hinausfahren. So wie er es mit diesen Jüngern gemacht hat, die auf ihn gehört haben. Daher brauchen wir sein Wort: Unter den Tausenden von Wörtern jeden Tages müssen wir auf dieses eine Wort hören, das uns nicht von Dingen spricht, sondern vom Leben.“6

In jedem Lebensabschnitt, in den wechselnden Umständen, in denen wir uns bewegen, können wir verschiedene Äußerungen derselben Liebe entdecken, die unserer Hingabe den Anstoß gab. Sie wird immer reifer, weil sie weiß, mit wem sie unterwegs ist und für wen sie sich einsetzt; sie weiß, dass es sich lohnt; in gewissem Sinne erfüllt sie ihre Sendung mit größerem Bewusstsein und in größerer Freiheit. Der heilige Josefmaria erinnert uns daran, dass „die Hingabe eines jeden ein großzügiges und selbstloses Geschenk seiner selbst war; weil wir diese Hingabe bewahren, bedeutet Treue ein immerwährendes Sich-Schenken: Liebe, Großzügigkeit, Entsagung, die fortdauert, und kein bloßes Ergebnis der Trägheit.“7 Wir lieben den Herrn in der Gegenwart, mit der Jugendlichkeit der ersten und ursprünglichen Liebe, die nicht vergeht, denn Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit. Und auch wenn die Jahre vergehen und sich unsere Lebensumstände ändern, bleibt diese Liebe, die unser Herz birgt, eine Quelle des Lebens, denn Jesus liebt uns täglich auf neue Weise.

Auf diesem Weg „darf die Erfahrung der persönlichen Schwachheit – bei uns selbst und bei den anderen – uns, im Vergleich mit dem großartigen Angebot des christlichen Glaubens und des Geistes des Werkes, nicht entmutigen“, so schrieb der Prälat des Werkes in einem Hirtenbrief. „Angesichts der Ernüchterung, die die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem hohen Ideal und der armseligen Realität unseres Lebens hervorrufen kann, dürfen wir trotzdem die Sicherheit haben, dass wir jeden Tag mit der wirksamen Gnade des Heiligen Geistes und mit der Hilfe unserer Mutter Maria „wieder neu beginnen können.“ 8


1 Franziskus, Generalaudienz, 27.3.2013.

2 Benedikt XVI., Predigt, 20.3.2008.

3 Prälat Fernando Ocáriz, Im Licht des Evangeliums, S. 142.

4 Hl. Johannes Paul II., Ansprache, 19.8.2000.

5 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 31.

6 Papst Franziskus, Predigt, 26.1.2020.

7 Hl. Josefmaria, Briefe 2, Nr. 12.

8 Prälat Fernando Ocáriz, Brief, 28.10.2020.

Foto von Samsul Alan @Vecteezy