Stärker als die Atombombe

Hisae Saki ist Supernumerarierin des Opus Dei. Sie lebt in Nagasaki, spricht über die Erinnerungen ihrer Mutter an das Bombardement von Hiroshima, über ihre eigene Bekehrung und Heirat und den Besuch des seligen Alvaro in Japan im Jahr 1987.

Das Ehepaar Saki aus Nagasaki

Meine Mutter erinnerte sich noch in fortgeschrittenem Alter mit allen Details an dieses Ereignis, - so als hätte sie es vor einer Stunde erlebt. Sie war noch nicht zwölf Jahre alt und befand sich an einem heißen Tag im August in der Schule. Als um acht Uhr die erste Unterrichtsstunde des Morgens zu Ende war, sagte ihnen die Lehrerin, dass sie in der Pause gemeinsam den Schulhof reinigen und Blätter und Unkraut entfernen sollten. Das ist in Japan üblich: So lernen die Schüler, die Schule als etwas Eigenes zu betrachten, und gewöhnen sich daran, ordentlich zu sein.

Alle Kinder waren mitten in der Arbeit, als sie um acht Uhr fünfzehn den Lärm eines Flugzeugs hörten. Sie schauten hinauf und wurden plötzlich, inmitten einer erschreckenden Stille, in blendend weißes Licht getaucht. Eine Sekunde danach fegte sie ein stürmischer Wind hinweg und verteilte sie auf dem Hof. Meine Mutter fiel zehn Meter von dem Ort, an dem sie sich befunden hatte, zu Boden und, Gott sei Dank, passierte ihr nichts. Die Lehrerinnen wussten nicht, was sie tun sollten. Sie öffneten rasch die Tore der Schule und die Kinder liefen entsetzt nach Hause, mitten durch eine riesige, bräunliche Staubwolke.

Die Atombombe von Nagasaki, August 1945

Die Schule war auf einem Hügel in den Außenbezirken gelegen, von dem aus man einen guten Überblick über die Stadt hatte, - mit den Gebäuden, die auf die sechs Inseln verteilt waren, die zwischen den sieben Armen der Flussmündung lagen. Im Süden sah man die Molen, und dahinter das innere Meer mit seinen vielen kleineren und größeren Inseln. Jeden Tag, wenn sie von der Schule kam, blieb sie kurz stehen, um die Landschaft zu betrachten; aber an diesem Morgen, als sie - während sie den Hang ganz schnell hinunter lief – flüchtig schaute, war sie wie gelähmt: Hiroshima war zu einer Ruinenstadt geworden, in der die Menschen auf den Straßen schrien und weinten. Viele von ihnen waren am ganzen Körper verletzt und hatten schreckliche Brandwunden.

Der Tag verfinsterte sich seltsam, und als sie zu ihrem Haus kam, fand sie es halb zerstört und ihre Eltern fast von Sinnen und erschüttert auf dem Boden hockend, mit einigen Quetschwunden und leichten Verbrennungen. Als sie sie kommen sahen, standen sie auf, umarmten sie weinend und sagten Dank, dass sie noch lebten. Sie rafften zwei oder drei unentbehrliche Dinge zusammen und machten sich inmitten des Chaos zum Haus von Verwandten auf den Weg; überall in der Stadt ertönten die Sirenen und man hörte die Rufe Tasukete! Tasukete! (Hilfe! Hilfe!). Viele Gebäude standen in Flammen, und sie mussten sich den Weg durch eine Menge von halb bekleideten Menschen, die ihre Häuser überstürzt verlassen hatten, bahnen, - durch den Schutt von Ruinen und zwischen umgestürzten Telefonmasten.

Glücklicherweise stand das Haus unserer Verwandten noch; als sie aber hinein gingen, fanden sie eine Tante meiner Mutter, deren Leib eine einzige Brandwunde war und die mit dem Tode rang. Sie starb noch in derselben Nacht.

Zwei Tage später, als die Nachricht vom Bombardement Nagasakis eintraf, verfielen sie in einen Zustand der Entmutigung und Bestürzung. Sie waren so verwirrt, dass sie dachten, all das sei ein böser Traum, ein Albtraum, der mit einem Schlag verschwinden musste. Das erklärt, dass sie am 15. August, als sie im Radio zum ersten Mal in ihrem Leben die Stimme Tennos, des Kaisers hörten, der das Ende des Krieges verkündete, - wie die meisten im Land – eine sehr große Erleichterung verspürten.

Da sich der Kaiser in einer feierlichen und archaischen Sprache ausdrückte, und die Übertragung ziemlich mangelhaft war, konnten sie nicht gut verstehen, was er sagte. Entscheidend aber war, dass der Krieg zu Ende war. „ Der Feind hat eine neue, über alle Maße grausame Bombe eingesetzt, deren Zerstörungskraft wirklich unvorstellbar ist, und er hat den Tod von vielen unschuldigen Menschen verursacht… Wenn wir weiter kämpfen würden, wäre das Resultat nicht nur der Zusammenbruch und die Zerstörung des japanischen Volkes, sondern es hätte auch die komplette Auslöschung der menschlichen Zivilisation zur Folge “.

Foto von Hiroshima ein Jahr nach der Explosion, aufgenommen von Piloten von Enola Gay.

Meine Mutter konnte all das nicht vergessen, und – obwohl sie keine Christin war – erzog sie uns dazu, keine Rachsucht gegenüber irgendjemandem zu hegen. Sie sprach uns immer von der Notwendigkeit, zu vergessen und zu verzeihen. Diese Lehren haben mein Leben bestimmt, - in meiner Kindheit und Jugend und jetzt, da ich verheiratet bin.

Mein Mann

Ich lernte meinen Mann in Kioto Anfang der 70er-Jahre kennen. Er studierte Sprachen und ich Klavier. Ein gemeinsamer Freund, der unsere Begeisterung für die Musik kannte, stellte uns einander vor. Wir unterhielten uns, gingen gemeinsam aus, verliebten uns ineinander und wuchsen auch zusammen in Bezug auf den Glauben.

Damals studierten wir beide den Katechismus, den wir – infolge der Mentalität, in der wir erzogen worden waren – als eine Sammlung von Vorschriften und Regeln, die man kennen und beachten soll, betrachteten. Dank des Opus Dei entdeckten wir dann, dass das christliche Leben nicht nur in der Erfüllung einiger Gebote besteht, sondern mehr ist: Gott mit ganzem Herzen zu lieben und Ihm zu dienen, indem wir mit Werken die Liebe Gottes zu uns in unserem familiären und gesellschaftlichen Leben und in unserer gewöhnlichen Arbeit zum Ausdruck bringen.

Wir empfingen die Taufe und dann entsprachen wir dem Ruf Gottes. Er schloss sich dem Werk an… und dann auch ich; und das vereinte uns noch mehr, denn seit unserer Verlobungszeit – als wir noch nicht katholisch waren – begeisterte uns die Idee, ein „helles und frohes Zuhause“ zu bilden, wie der heilige Josefmaria sagte.

Wir heirateten und waren in den Flitterwochen in Rom. Dort empfing uns der Prälat des Opus Dei, Bischof Alvaro del Portillo; und als er erfuhr, dass wir beide vom Werk waren, sagte er uns, wir sollten vorbildlich sein, indem wir an so viele Menschen unseres Landes dächten, die der Herr in Zukunft in unserem Land berufen würde, sich Ihm ganz in der Ehe hinzugeben.

Er riet uns, nie vor den Kindern zu streiten und schenkte mir und meinem Mann je einen Rosenkranz, den er vorher küsste.

Bischof Alvaro

Man wird unsere Freude verstehen, als Bischof Alvaro am 14. Februar 1987 nach Nagasaki kam. Wir erwarteten ihn mit unseren Kindern am Flughafen, um ihn willkommen zu heißen. Ich überreichte ihm einen blühenden Kirschbaumzweig, und meine Tochter einen Blumenstrauß. Obwohl es Winter war und es zu dieser Zeit im Allgemeinen schneit, stieg damals die Temperatur an, und wir genossen fast frühlingshafte Tage.

Wie viele Christen, die in diese Stadt kommen, die „Rom des Ostens“ genannt wird, betete er vor dem Bild der Muttergottes, bei dem sich die verborgenen Christen zu erkennen gaben, und besuchte das Denkmal der Märtyrer.

Er erwähnte, dass einer von ihnen, der Mexikaner Felipe de Jesús, ein entfernter Verwandter von ihm war, und sagte uns: „Die anderen dachten, dass er das Martyrium nicht bestehen könnte, da er ein wenig schwach war. Aber Gott hatte so viel Geduld mit ihm, dass er schließlich eine Lektion der Großzügigkeit und des Starkmuts, des Heroismus durch den aus Liebe zu Gott angenommenen Tod zu geben wusste. Ihm habe ich mich und euch alle empfohlen, damit wir Menschen sind, auf die Gott mit Freude blicken und sagen kann: auf diesen kann ich mich verlassen“.

Es wurde ein Treffen mit Bischof Alvaro in der Schule von Nagasaki organisiert, an dem Hunderte von Personen teilnahmen. Zum Großteil waren sie Buddhisten oder hatten keine Religion, und sie wunderten sich, wie er seine Lehren vermittelte, denn er verstand es, eine angenehme und warme Atmosphäre zu schaffen. Am Ende sagte eine Dame, die nicht christlich war: „Ich hatte den Eindruck, im Aufenthaltsraum meines Hauses zu sein, und nach dem Essen mit einem Freund der Familie zu plaudern“.

Zu Beginn erwähnte er, wie sehr es dem Gründer des Opus Dei gefallen hätte, unser Land kennen zu lernen: „Ich erinnere mich an seine Sehnsucht, Gutes in diesem Land zu tun, in dem es so viele Menschen mit vielen menschlichen Tugenden gibt, die fähig sind, mit außergewöhnlichem Einsatz und Intensität zu arbeiten. Er stellte sich vor: Wenn alle Christus kennen, alle Christus finden, alle Christus lieben würden, was für ein großes Gut das für die Menschheit sein würde! Denn alle diese Tugenden, die es hier gibt, z.B. diese Arbeitsamkeit, die den Menschen in Japan eigen ist, - in den Dienst Gottes gestellt, wäre etwas Großartiges“.

Dann sagte er etwas, das mich überraschte: Er erinnerte an den Schmerz des Gründers, als er von der Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki erfuhr. „Er betete für alle Opfer und für die Schwerverletzten, damit sie nicht verzweifelten und in den Leiden Gott begegneten. Er dachte auch an die Überlebenden, die aber Schäden davontrugen, die man noch nicht kannte“.

Ich schaute gelegentlich verstohlen auf die Gesichter der Leute, besonders auf die der Nichtchristen. Auch wenn wir Japaner unsere Gefühle gewöhnlich nicht zeigen, sah man doch, dass viele gerührt waren.

Sie stellten ihm verschiedene Fragen über den Sinn des Leidens und die Suche nach Glück. Eine katholische Musikprofessorin sprach von ihren Eltern, die praktizierende Buddhisten und sehr großzügige Menschen waren. „Was kann ich für sie tun“, fragte sie ihn, „um sie Christus näher zu bringen?“

Bischof Alvaro gab ihr eine ausführliche Antwort, die ich oft betrachtet habe, da der Großteil meiner Familie nicht christlich ist.

Das Ehepaar Saki in Nagasaki. Hisae Saki: “Meine Mutter litt an den Folgen der Atombombe, und obwohl sie nicht Christin war lehrte sie mich, zu vergessen und zu verzeihen”.

„Ich gebe dir den Rat, deine Eltern sehr zu lieben, sie zu achten und zu ehren. Du hast den Glauben sicher empfangen, weil es Wille Gottes war. Aber deine Eltern haben dir den Weg erleichtert, indem sie ihre Überzeugungen aufrecht praktizierten. Vielleicht haben sie, ohne es zu wissen, aus dir einen religiösen Menschen gemacht, der für die Aufnahme des Samens des Glaubens bereit war.

Deinen Eltern kannst du keine Lektion erteilen, sondern du musst sie lieben und ihnen Achtung erweisen. Aber du kannst und sollst für sie beten: Da sie so gut und religiös sind und so viele gute Werke verrichten, bitte den Herrn, er möge ihnen das Licht des christlichen Glaubens schenken. Er ist der größte Schatz, den man auf Erden finden kann, und es ist logisch, dass du ihn für deine Eltern erbittest, - denn du sollst sie so lieben, dass du für sie das Beste wünschst. Und der Glaube ist das Beste, er ist die Ursache deines Glücks.

Wenn sie dich einmal nach der christlichen Religion fragen, so sprich von dem, was du in deinem Herzen trägst, - aber ohne zu diskutieren, denn sie handeln in gutem Glauben, und auch weil das nicht der Weg ist. Der Glaube ist eine Gabe, die man nicht durch Nachdenken oder Studieren erlangt. Gott gewährt sie frei. Es gibt Menschen, die das Geschenk des Glaubens nicht empfangen, und vielleicht verhalten sie sich besser als viele Christen. Sie geben uns ein Beispiel der Aufrichtigkeit, der Ehrenhaftigkeit, des Verständnisses… Außerdem, meine Tochter, handelt es sich in diesem konkreten Fall um deine Eltern: ihnen sollst du nichts als Liebe, Dankbarkeit und Achtung entgegen bringen. Und bete für sie“.

Der Besuch von Bischof Alvaro stärkte uns sehr. Er war in mehreren Städten und sprach zu Menschen aller Art von Gott. Mich beeindruckte besonders – und ich dachte, dass es meiner Mutter gefallen hätte -, was er in Kioto sagte:

„Als ich zur Mittelschule ging, hieß es, dass Japan 100 Millionen Einwohner hätte. Heute seid ihr 120 Millionen, aber sehr wenige kennen Christus. Wenn die menschlichen Tugenden, die ihr hier in diesem Land lebt – Arbeitsamkeit, Ordnung und so viele andere -, in den Dienst Gottes gestellt würden, welche wunderbare Explosion könntet ihr in der ganzen Welt bewirken! Sie wäre weit wirksamer als die Atombombe. Das könnte die große Vergeltung Japans sein“.