Heiligung inmitten der Welt - Theologie und Spiritualität

Harm Klueting rezensiert in "Die Tagespost" das umfassende Werk von Ernst Burkhart und Javier Lopez über die Theologie und Spiritualität des Hl. Josefmaria Escrivá.

Im Jahr 1421 starb in der Haft in der Engelsburg in Rom der deutsche Dominikaner Matthäus Grabow, nachdem 1419 siebzehn Sätze aus seiner gegen die Brüder vom gemeinsamen Leben gerichteten Schrift als ketzerisch verdammt worden waren. Grabow hatte in dieser in Florenz öffentlich verbrannten Schrift Christentum und Mönchtum gleichgesetzt und in einem Leben nach den evangelischen Räten – Keuschheit, Armut und Gehorsam – den einzigen Weg der Nachfolge Christi gesehen. Er verneinte die Existenz anderer Wege und leugnete die Möglichkeit eines Lebens nach den evangelischen Räten außerhalb des Ordensstandes und somit auch in der Lebensform der Brüder vom gemeinsamen Leben, die keine Ordensregel befolgten und keine Gelübde ablegten. Den Gegenpol zu seiner radikal-monastischen Sicht nahm nach seinem Bruch mit dem Papst und mit der Kirche unter dem Papstprimat der ehemalige Augustinereremit Martin Luther ein, der ein Jahrhundert später in seiner 1521 entstandenen Schrift „De votis monasticis iudicium“ die auf den evangelischen Räten beruhenden Mönchsgelübde als dem Teufel gelobte gotteslästerliche, gottlose und abgöttische Sache bezeichnete, die nur dazu diene, sich selbst gerecht zu machen. Schon in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ von 1520 hatte Luther mit seiner Lehre vom Allgemeinen Priestertum den Unterschied von Klerus und Laien und das Weihepriestertum verworfen: „Alle Christen sind in Wahrheit geistlichen Standes und ist unter ihnen kein Unterschied denn des Amtes halben allein.“ Die Arbeit im weltlichen Beruf bezeichnete er als Gottesdienst im Sinne des Dienstes an der Gesellschaft: „Christus hat nicht zwei, noch zweierlei Art Körper, einer weltlich, der andere geistlich. Ein Schuster, ein Schmied, ein Bauer, ein jeglicher hat seines Handwerks Amt und Werk, und dennoch sind sie alle gleich geweihte Priester und Bischöfe, und ein jeglicher soll mit seinem Amt oder Werk den anderen nützlich und dienstlich sein. Man sagt zum Papst und den Seinen: Tu ora, Du sollst beten; zum Kaiser und den Seinen: Tu protege, Du sollst schützen; zu dem gemeinen Mann: Tu labora, Du sollst arbeiten. Das soll nicht heißen, dass nicht ein jeglicher beten, schützen, arbeiten sollte, denn das heißt alles beten, schützen, arbeiten, wenn sich jemand in seinem Werk übt.“

Was haben der radikale Monastizismus des Matthäus Grabow und der radikale Laizismus Martin Luthers mit dem 1902 geborenen, 1975 gestorbenen und 2002 heiliggesprochenen spanischen Priester Josefmaria Escrivá de Balaguer zu tun? Was den radikalen Monastizismus betrifft, scheint die Antwort klar, schreibt der Gründer des Opus Dei doch 1930, „dass Heiligkeit nicht eine Sache für Privilegierte ist“, oder, Jahrzehnte später, dass Menschen, die nach Heiligkeit streben, „normale Menschen sind, die einer normalen Arbeit nachgehen und in der Welt als das leben, was sie sind: als christliche Staatsbürger, die den Forderungen ihres Glaubens ganz entsprechen wollen“. In einer Äußerung über das Opus Dei heißt es, dass dieses „weder an Gelübden noch an Versprechen, noch an irgendeiner anderen Form von Weihe seiner Mitglieder Interesse hat, die über jene Weihe hinausginge, welche alle Christen bereits in der Taufe empfangen haben“. Aber Luther? Wenn der heilige Josefmaria die „Heiligung der Welt“ durch Menschen zum Programm erhebt, die „sich mit vollem Einsatz ihrer beruflichen Arbeit widmen und in den verschiedensten bürgerlichen und weltlichen Angelegenheiten verantwortlich ihren Mann stehen“, so könnte das auch von dem deutschen Reformator des 16. Jahrhunderts gesagt sein. Aber Escrivá verwirft, anders als Luther, den Ordensstand nicht; er kommt – wie die Autoren des hier vorzustellenden Werkes schreiben – „oft auf das Beispiel heiliger Ordensleute zu sprechen, um die Laien einzuladen, Christus in radikaler Konsequenz nachzufolgen und ohne Abstriche die gleiche vollkommene Hingabe zu leben, allerdings in und durch die weltlichen Tätigkeiten“. Dabei ist dieser Weg der Heiligung „in der Säkularität“ für Escrivá aber keine Verlängerung – Überbietung, Verdrängung oder Ersetzung – der Ordensspiritualität, sondern etwas Anderes und Eigenes: „Escrivá schätzt, ja verehrt das geweihte Leben, aber er lehrt die Heiligung in der Welt. In beiden Fällen handelt es sich um direkte Wege zur Heiligkeit – aber um verschiedene Wege.“ Escrivá verwirft auch nicht, wie Luther, das Papstamt, den Klerus, den hierarchischen Charakter der Kirche oder die Tradition, in der nach der Lehre des Konzils von Trient das eine Evangelium Jesu Christi ebenso gegenwärtig ist wie in der Heiligen Schrift. Das Leben der an Gelübde gebundenen Ordensleute ist für Escrivá „ein Geschenk Gottes und von unschätzbarem Wert für die Kirche – das ist die Antwort an den radikalen Laizismus –, aber es ist keineswegs das Paradigma christlicher Existenz“ – so die Antwort an den radikalen Monastizismus. Deshalb hat der heilige Josefmaria Escrivá durchaus etwas mit dem Reformator Martin Luther und mit dem Dominikaner Matthäus Grabow zu tun. Ernst Burkhart und Javier López, beide Priester der Prälatur Opus Dei und beide Professoren für Spirituelle Theologie an der Opus Dei-Universität „Santa Croce“ in Rom, haben in den Jahren 2010 bis 2013 ihr großes, dreibändiges Werk über die Theologie des heiligen Josefmaria Escrivá in spanischer Sprache unter dem Titel „Vida cotidiana y santidad e la ensenanza de San Josémaría“ veröffentlicht. Jetzt liegt der erste Band in einer von Wilhelm Mühlöcker besorgten deutschen Übersetzung vor, auf den auch der zweite und der dritte Band auf Deutsch folgen sollen. Band eins bringt nach dem mehr als 200 Seiten umfassenden Grundlagentext „Historischer und theologischer Rahmen der Lehre des heiligen Josefmaria“ den Teil I des Werkes mit dem Titel „Das Ziel des christlichen Lebens: Die Verherrlichung Gottes, das Reich Christi, die Kirche“ mit den Kapiteln „Gott verherrlichen: Beschauung inmitten der Welt“, „Auf dass Christus herrsche: Jesus Christus an der Spitze der menschlichen Tätigkeiten“ und „Die Kirche aufbauen: Heiligung und Apostolat“.

Besonders gelungen scheint dem von der Theologie- und Kirchengeschichte aus urteilenden Rezensenten die Einbindung der Theologie Escrivás in die geschichtliche Entwicklung der Rolle der Laien in der Kirche seit der Antike. Escrivá selbst sprach in einem Interview von 1966 von dem „Entfaltungsprozess der Theologie und des Lebens, der die Laien immer mehr zur vollen Übernahme ihrer ekklesialen Verantwortung und ihrer spezifischen Teilnahme an der Sendung Christi und seiner Kirche führt“. Es ist die Rede vom „Verblassen des Bewusstseins von der Berufung der Laien zur Heiligkeit in Mittelalter und Neuzeit“, aber auch von den verschiedenen Fassungen des Allgemeinen Priestertums, das ja keineswegs nur Luther beschäftigte. Auch die „Entfaltung der Laienspiritualität im 20. Jahrhundert“ mit einem interessanten Blick auf den französischen Philosophen Jacques Maritain bis zu der dogmatischen Konstitution „Lumen gentium“ des Zweiten Vatikanischen Konzils und dem Apostolischen Schreiben „Christifideles laici“ Papst Johannes Pauls II. von 1988 wird thematisiert. Es wird deutlich, dass Escrivá mit der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils vollkommen übereinstimmt und zugleich „ein spirituelles Lehrgebäude entfaltet, das über die Konzilsdokumente hinausführt“.

Das Werk ist trotz seines großen Umfangs hervorragend geeignet, jenseits der Polemik gegen das Opus Dei einen sehr guten und in dieser Form bisher fehlenden Einblick in die Theologie Escrivás zu geben. Das erscheint auch deshalb notwendig, weil Escrivá in der akademischen Theologie kaum rezipiert wird. Dazu die Autoren: „Wer die einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahrzehnte durchgeht, stellt fest, dass es zwar nicht wenige Studien über seine Person und über Aspekte seiner Lehre gibt, dass er aber in Werken der systematischen Theologie oder in Arbeiten, die an sich zentrale Punkte seiner Lehre betreffen, praktisch nicht erwähnt wird. Es muss aber auch erwähnt werden, dass sich die heutige akademische Theologie überhaupt kaum mit den Lehren von Heiligen befasst, die nicht auch wissenschaftliche theologische Werke hinterlassen haben“ – ein Schicksal, das Escrivá mit anderen, etwa mit Edith Stein, teilt. Eine Lösung dieses Problems sehen die beiden Autoren darin, „dass die Theologie ,kontemplativer‘ werden muss, was letztlich bedeuten würde, dass sie auch wieder ,theologischer‘ wird“.

Ernst Burkhart/Javier López: Alltag und Heiligkeit in der Lehre des heiligen Josefmaria. Studie zur spirituellen Theologie, Bd. 1., Adamas Verlag, Köln 2015, 631 Seiten, ISBN 978-3-937-626-27-7, EUR 36,–

Die Tagespost - 1. Oktober 2106