70 Jahre „Camino“ – Der Weg

Rückblick im Gegenlicht des Heute – von Josef Arquer

Ein Exemplar der Erstausgabe

Wie überraschend können Rückblicke sein! Im Licht des Heute erscheint Altbekanntes mit neuen, bislang verborgenen Nuancen. Ein vertrauter Weg, nach Jahren wieder gegangen. Oder das Spielzeug aus der Kinderzeit, plötzlich wiedergefunden. Oder ein altes Buch, das einem viel bedeutet: Man erinnert sich an die erste Lektüre, und langsam dämmert es einem, dass es eher Begegnung und nicht bloße Lektüre. Staunend merkt man, dass die Sätze seit damals nicht gealtert sind, sondern in neuer Bedeutung erscheinen. Ein Gedanke, das damals unbeachtet blieb, erweist sich rückblickend als Same, der zum Baum wurde und nun Frucht trägt. – Die Zeit kann Dingen und Orten den Glanz der Kostbarkeit verleihen.

Vor siebzig Jahren, mit dem 29. September 1939 als Tag der Auslieferung, erschien in Valencia „Camino“ von Josemaría Escrivá. Der Autor hielt die ersten Exemplare am Vorabend des 2. Oktober in Händen, dem elften Gründungstag des Opus Dei.

Die Auflage betrug 2.500 Exemplaren und der Stückpreis zunächst zehn, dann 14 Peseten. Der private Vertrieb entsprach den bescheidenen Möglichkeiten einer kleinen Gruppe junger Leute um den heiligen Josefmaria: Man suchte Buchhändler auf und schlug ihnen vor, ein paar Exemplare in Kommission zu nehmen. Drei Wochen später schreibt ein junger Mann aus Valencia dem Autor: „Der Verkauf ist bei uns recht zufriedenstellend, wir haben schon fast hundert Exemplare untergebracht.“ Es gab auch Rückschläge. Einer davon wurde durch die drollige Pointe gemildert, dass der Geschäftsführer einer großen Buchhandlung den Band durchgeblättert hatte, dessen Einteilung in durchnummerierte Aphorismen bemerkte und meinte: „Nein, Gedichtbände interessieren mich nicht.“

Ein Exemplar der Erstausgabe

Es war nicht die einzige Verwechslung. Manche kauften das Buch wegen seines eleganten Designs: 18 x 26 cm, der Schutzumschlag weißgrau mit einem mittigen Balken aus großen grünen „9“, darauf der Titel CAMINO in Großbuchstaben und der Autoren- name „josé maria escrivá“ in englischen Minuskeln. Das sah nicht gerade nach einem frommen Buch aus. Spätestens beim Lesen merkte der Käufer, dass es sehr wohl ein solches war. Der heilige Josefmaria hatte es bewusst so gewollt, um den damaligen Brauch aufzubrechen, religiöse Schriften in schwarzen Einbänden herauszubringen.

Auch inhaltlich war das Buch anders als die damaligen Erbauungsbücher. Statt hochtrabender Diktion vernahm der Leser

„Worte, die ich dir leise

und im Vertrauen sage

als Freund, als Bruder, als Vater.

In diesen vertraulichen Gesprächen

ist Gott zugegen.“

Das Andere an „Camino“ kam nicht von ungefähr. Es war eine logische Konsequenz aus der Einsicht des Autors, die der Herr ihm als dem Gründer des Opus Dei bereits 1928 eingegeben hatte: Heiligkeit sei „keine Sache für Privilegierte“.

Die ersten Käufer des Buches waren natürlich die jungen Leute, die sehnsüchtig das Erscheinen des „fertigen“ Werkes Escrivás erwarteten, dessen Werdegang sie selber miterlebt hatten. Die einführenden Sätze hatten sie nicht bloß als Anmutung erfahren, sondern im geistlichen Gespräch mit dem Autor als Wirklichkeit:

„Erinnerungen möchte ich wachrufen in dir und Gedanken wecken,

die dich treffen,

damit dein Leben anders wird

und du Wege des Gebetes

und der Liebe aufnimmst

und am Ende ein Mensch bist,

der klar sieht.“

Der Weg zum geistlichen Klassiker

„Camino“ ist derzeit mit gut 4.500.000 Exemplaren in 43 Sprachen verbreitet. Am Anfang stand nicht ein Schriftsteller, der ein Buch schreiben wollte, sondern ein junger Priester, der denjenigen etwas Schriftliches an die Hand geben wollte, die das Gespräch mit ihm suchten und seinem Rat vertrauten. Escrivá wollte die Anregungen, die er diesem oder jenem mündlich gegeben hatte, über den Augenblick hinaus und auch anderen Menschen verfügbar machen. Und die jungen Leute in seiner Nähe möchten ihrerseits seine spontanen, im Gespräch unter vier Augen gefallenen Worte greifbar und nachlesbar bei sich haben.

Die deutsche Erstausgabe

Anfang der 30er Jahre. Escrivá holt am Ende einer persönlichen Aussprache einen Zettel aus der Tasche und notiert ein, zwei Stichworte. Später tippt er seine Notizen ab und formt sie in kurze oder mitunter auch längere Aphorismen um. Solche Seiten werden dann vervielfältigt und unter den jungen Leuten verteilt.

So in etwa entstand ein guter Teil eines Büchlein von 10,5x15 cm, das um 1934 gedruckt wird und den Titel „Consideraciones espirituales“ trägt – geistliche Erwägungen. Der Verfasser versteht das Bändchen als einen gebunden Ersatz für die losen Blätter. Es soll ihm die geistliche Leitung derer erleichtern, die sich dem Opus Dei nähern und weiter Menschen damit vertraut machen. An einen Verkauf der 500 Exemplare im Buchhandel denkt er nicht. Vielleicht deshalb hält es der Autor nicht einmal für notwendig, sich mit vollem Namen vorzustellen, sondern belässt es schlicht bei „José Maria“.

Mit dem Ende des Bürgerkrieges im Jahre 1939 normalisierte sich das religiöse Leben in Spanien. Escrivás Wirken weitete sich aus, und das Opus Dei begann sich von Madrid aus in andere Städte des Landes auszubreiten. Nun begann der heilige Josemaría, an ein richtiges Buch zu denken. Die „Consideraciones“ sollten den Grundstock bilden, doch schien ihm eine Verdoppelung des Inhaltes nötig. Wie er damals den schmalen Band ohne die Absicht geschrieben hatte, ein Buch zu schreiben. so setzte er sich auch jetzt nicht etwa hin überlegte, was er sonst noch schreiben könnte. Vielmehr ging er frühere Notizen und Anmerkungen durch, die er zu seinem eigenen geistlichen Leben oder zu apostolischen Gesprächen notiert hatte, fand, was er brauchte, und formte es in der gewohnten Weise um.

Gemäß der klassischen Maxime „primum vivere, deinde philosophari“ – erst das Leben und dann die Philosophie, stand am Anfang der unermüdliche apostolische Einsatz und die lebendige Erfahrung des Autors als Christ und Priester und nicht etwa Überlegungen und Ideen.

Die ungewöhnliche Art, wie „Camino“ nach und nach Gestalt annahm, verdeutlicht einen Grundzug von Escrivás Charisma: den Primat des Wortes. Das gesprochene Wort ist für ihn das eigentliche Vehikel echter Kommunikation. Auch wo in „Der Weg“ ein Gedanke für sich dasteht, ahnt man dahinter oftmals den ursprünglichen Gesprächspartner.

Der Buchtitel „Camino“

Mit dem Plan, ein richtiges Buch zu veröffentlichen, stellte sich auch die Frage nach dem Namen. Vermutlich fand Escrivá den Titel „Consideraciones espirituales“ zu lang und zu allgemein. In seiner Korrespondenz nennt er das Büchlein einfach „Consideraciones“. Jedenfalls steht „Camino“ Mitte Mai 1939 als neuer Titel fest. Der Titel hat etwas Ikonenhaftes, das auf Christus verweist: „Ich bin der Weg“ (Joh 14, 13) Doch spielt der Autor mit der Fülle von Nuancen, die das Wort für den Christen bereithält:

Christus, der Weg, geht selbst einen Weg: „Kreuz, Arbeit, Drangsal: du wirst sie haben, solange du lebst. – Diesen Weg ging Christus. Der Schüler steht nicht über dem Meister.“ (Aphorismus 699)

Christus unterwegs ruft Menschen, ihm auf seinem Weg zu begleiten, mitzugehen, nachzufolgen. „Entzünde alle Wege der Erde mit dem Feuer Christi, das du im Herzen trägst.“ (Aphorismus 1)

Ein „Weg“ ist auch die neue Lebensart, die aus dem Ruf Gottes entspringt: „Bitte den Herrn demütig, dass Er deinen Glauben vermehre. – Dann wirst du mit dem neuen Licht deutlich die Unterschiede zwischen den Pfaden der Welt und deinem apostolischen Weg erkennen.“ (Aphorismus 580)

Anfang Juni 1939, also kurze Zeit nach der Festlegung des Buchtitels, ereignet sich eine kleine Begebenheit, die wohl ein bezeichnendes Licht auf die Assoziationen wirft, die das Wort „Camino“ – Weg – im heiligen Josemaría weckte. Er hielt bei Valencia Exerzitien für Studenten, und zwar in einem Altbau, der zu militärischen Zwecken benutzt worden und noch deutliche Spuren des zwei Monate davor beendeten Bürgerkrieges zeigte. Einer dieser Spuren war ein großes Hinweis-Schild mit dem Spruch: „Cada caminante siga su camino“, „Jeder Wanderer folge seinem Weg „.

Jemand machte sich daran, das Schild zu entfernen. Der heilige Josefmaria sagte aber: „Lass es hängen, mir gefällt es...“ Wie einer der Teilnehmer an jenen Exerzitien erzählt, (José Orlandis, der am Ende der Tage um die Aufnahme ins Opus Dei bat), erwähnte der heilige Josemaría in den Betrachtungen während der Exerzitien mehrfach diesen Spruch, dem er verschiedene Wendungen gab. Vor allem deutete er ihn als eine Erinnerung daran, dass es für die Nachfolge Christi keine stereotypen Wege gibt. Deshalb also: „Cada caminante siga su camino“ – Jeder Wanderer folge seinem Weg.

Anm.: Die Einzelheiten zur Entstehung von „Camino“ sind der historisch-kritischen Ausgabe entnommen: „Camino – edición crítico-histórica preparada por Pedro Rodriguez”, 3. Auflage, Madrid, 2004.