Ein Anrecht auf die Wahrung des guten Rufes: Karl Kardinal Lehmann über das Opus Dei

Aus aktuellem Anlaß neu veröffentlicht: Vortrag von 2002 im Berliner Gropius-Bau.

Vor dem Martin-Gropius-Bau: Horst Hennert, Leiter des Berliner Opus Dei, Kardinal Karl Lehmann, Prälat Dr. Christoph Bockamp, Leiter des Opus Dei in Deutschland (v. li.). (Foto: Mirschel)

Am 16. November 2002, nur wenige Wochen nach der Heiligsprechung von Josemaría Escrivá am 6. Oktober 2002, hielt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und Bischof von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, auf Einladung der deutschen Region des Opus Dei im Berliner Gropius-Bau einen Vortrag, in dem er ein „ungeschminktes, möglichst vorurteilsfreies Bild“ des neuen Heiligen zeichnete. „Wie alle anderen Menschen auch“, so der Kardinal, habe der hl. Josemaría „ein Anrecht auf die Wahrung des guten Rufes und die Vermeidung von Vorurteilen oder gar Vorverurteilungen“.

In seiner Auseinandersetzung mit der Gestalt und der Bedeutung des Opus-Dei-Gründers offenbarte Kardinal Lehmann nicht nur eine tiefe Kenntnis des Heiligen und seiner Sendung, sondern setzte dessen Leben und Wirken auch in direkte Beziehung zur Tradition der Kirche und insbesondere den Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Berufung der Laien in Kirche und Welt. Wir dokumentieren in Auszügen den Vortrag sowie die daran anschließende Diskussion.

Der Vortrag

In einer „biographischen Skizze“ führt Kardinal Lehmann zunächst die wichtigsten Lebensdaten des hl. Josemaría an, anhand derer sich bereits die Kernbestandteile seiner Botschaft ablesen lassen – einschließlich dem zentralen Ereignis der Gründung des Werkes am 2. Oktober 1928.

Vor dem Martin-Gropius-Bau: Horst Hennert, Leiter des Berliner Opus Dei, Kardinal Karl Lehmann, Prälat Dr. Christoph Bockamp, Leiter des Opus Dei in Deutschland (v. li.). (Foto: Mirschel)

Am Schutzengelfest (2. Oktober) des Jahres 1928 beschäftigt er sich während einiger Besinnungstage nochmals mit seinen geistlichen Notizen aus den letzten zehn Jahren. Wie er selbst berichtete, „sah“ er dabei plötzlich in seiner vollen Gestalt das, was später „Opus Dei“ heißen sollte. Er bleibt später mit Informationen über dieses Ereignis ziemlich zurückhaltend, aber es ist kein Zweifel, dass der 26jährige Priester hier die geistliche Geburt der von ihm gegründeten Gemeinschaft erfahren durfte.

Der „Kern“ dieser Botschaft: Menschen aus allen Berufen und sozialen Situationen sollen inmitten ihres alltäglichen Tuns nach der Fülle des christlichen Lebens streben. Er sollte diesen Laien den göttlichen Ruf bewusster machen und Wege der Heiligung in der beruflichen Arbeit und in der Erfüllung der gewöhnlichen Aufgaben der Christen weisen.

Der Geist des Opus Dei

Hier liegt auch das Zentrum seiner Botschaft, die er im Jahr 1966 in einem Interview mit der New York Times folgendermaßen formulierte: „Der Geist des Opus Dei greift die herrliche, jahrhundertelang von vielen Christen vergessene Wirklichkeit auf, dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun. Alle Menschen ohne Ausnahme ruft Christus auf, vollkommen zu sein wie ihr himmlischer Vater vollkommen ist (vgl. Mt 5,48). Heiligwerden bedeutet für die überwiegende Mehrzahl der Menschen, ihre eigene Arbeit zu heiligen, sich in dieser Arbeit selbst zu heiligen und die anderen durch die Arbeit zu heiligen, damit sie täglich auf dem Weg ihres Lebens Gott begegnen. – Die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung, die eine immer stärkere Bewertung der Arbeit mit sich bringt, erleichtert offensichtlich den Menschen unserer Zeit das Verständnis für diesen Aspekt der christlichen Botschaft, den die Spiritualität des Opus Dei so sehr hervorhebt. Entscheidend aber ist das Wehen des Heiligen Geistes, der in seinem lebensspendenden Wirken unserer Zeit zum Zeugen einer tiefen Erneuerung im ganzen Christentum hat machen wollen. Liest man die Dekrete des Zweiten Vatikanischen Konzils, so erscheint als ein wichtiger Teil dieser Erneuerung gerade die neue Wertschätzung der gewöhnlichen Arbeit und der Würde der Berufung zu einem christlichen Leben und Arbeiten mitten in der Welt.“

Nach langer Zeit des Wartens ist bei der entscheidenden Vision vom 2. Oktober 1928, die Grundintuition mit großer Deutlichkeit erkennbar geworden. Ein Kern liegt in der Aussage, „dass jede Arbeit, die im Menschlichen lauter und rechtschaffen ist, zu einem göttlichen Tun werden kann. Wenn man Gott dienen will, gibt es keine belanglosen oder zweitrangigen Arbeiten: alle sind von größter Bedeutung. – Um Gott zu lieben und ihm zu dienen, ist es nicht nötig, auffallende Dinge zu tun“. Escrivá geht davon aus, dass der Christ ein unbefangeneres, freilich keineswegs naives Verhältnis zur Welt und zu seiner Arbeit gewinnen muss.

Der Unterschied zwischen Opus Dei und den Orden

Hier setzt er sich am stärksten von den klassischen Orden ab. Er bestreitet entschieden und grundlegend, dass nur derjenige ein ganz auf Gott gerichtetes Leben führen kann, der auf irgendeine Weise Abstand von der Welt hält, so z.B. durch Klostermauern, Gelübde, Ordenskleid und auch Ordensregeln. Er sah es als falsch an, dass das eigentliche christliche Leben faktisch oft gleichgesetzt worden ist mit der Abgeschiedenheit von der Welt, wie dies ein Ideal vieler Ordensgemeinschaften war. Weil der Laien-Christ oft noch stärker Versuchungen und Zerstreuungen ausgesetzt ist, hat man ihm ein Leben nach dem Evangelium gar nicht zugetraut und ihn nicht selten als einen „Christen zweiter Klasse“ gesehen, der die bedingungslose Nachfolge Jesu Christi nicht beschreiten könne. Die Laien selbst haben sich nach Escrivá dieser negativen Vorstellung zu lange gebeugt.

Es liegt also gewiss etwas Revolutionäres darin, wenn Escrivá sich mit solchen Argumenten nicht mehr mit einer ausgedünnten Ordensspiritualität für Laien abfinden möchte. Er traut der Gnade Gottes im Wirken vieler Laienchristen mehr zu. So hat Escrivá ganz grundlegend die Berufung jedes Christen in den Vordergrund gestellt. Hier ist das Time-Interview vom 15. April 1967 aufschlussreich: „Am ehesten ist das Opus Dei zu verstehen, wenn man sich das Leben der ersten Christen vergegenwärtigt. Sie lebten ihre christliche Berufung mit uneingeschränkter Hingabe; sie suchten ernsthaft jede Vollkommenheit, zu der sie durch die einfache und erhabene Tatsache der Taufe gerufen waren. Äußerlich unterscheiden sie sich nicht von den anderen Leuten. Die Mitglieder des Opus Dei sind normale Menschen, die einer normalen Arbeit nachgehen und in der Welt als das leben, was sie sind: als christliche Staatsbürger, die den Forderungen ihres Glaubens ganz entsprechen wollen.“ Kann man nicht verstehen, dass dieses Programm, auch wenn es vielleicht manchmal missverständlich umgesetzt wurde, viele Menschen anzog und anzieht?

Der Beruf als Mittel der ständigen Begegnung mit Christus

Die Unbefangenheit dieser Worte kann leicht täuschen. Es handelt sich keineswegs um eine naive Zuwendung zur Welt. Der Gründer war sich vollkommen klar, dass derjenige, der mehr in der Welt lebt, um so tiefer die Wurzeln seiner Existenz in Gott erfahren muss. Nicht zur Abkehr von der Welt ist der Laien-Christ gerufen, sondern zu ihrer verantwortlichen Gestaltung im Sinne des Schöpfers. Immer wieder kommt die Formulierung vor: sich durch seinen Beruf heiligen, seinen Beruf heiligen und die anderen durch den eigenen Beruf heiligen. Im Jahr 1967 formuliert Escrivá diese grundlegende Überzeugung in einer Predigt mit folgenden Worten: „Für euch, Männer und Frauen der Welt, steht jede Flucht vor den ehrbaren Wirklichkeiten des alltäglichen Lebens im Gegensatz zum Willen Gottes... Gott ruft euch auf, ihn gerade in den materiellen, weltlichen Aufgaben des menschlichen Lebens und aus ihnen heraus zu dienen. Im Labor, im Operationssaal eines Krankenhauses, in der Kaserne, auf dem Lehrstuhl einer Universität, in der Fabrik, in der Werkstatt, auf dem Acker, im Haushalt, in diesem ganzen, unendlichen Feld der menschlichen Arbeit wartet Gott Tag für Tag auf uns... Es tut unserer Zeit Not, der Materie und den ganz gewöhnlich erscheinenden Situationen ihren edlen, ursprünglichen Sinn zurückzugeben, sie in den Dienst des Reiches Gottes zu stellen und sie dadurch, dass sie zum Mittel und zur Gelegenheit unserer ständigen Begegnung mit Jesus Christus werden, zu vergeistigen.“

Deshalb hat Escrivá immer auch wieder Leute gesucht und mit ihnen gerungen, die ein intensives weltliches Leben führten und große Aufgaben erfüllen mussten. Er hielt die Einsatzbereitschaft und die Disziplin solcher Menschen für günstige Voraussetzungen, um sich in ähnlichem Maß auch für geistliche Ziele einzusetzen, die die alltäglichen Aufgaben nicht etwa verdrängen, sondern – wie er gerne sagte – „veredeln“. Er war überzeugt, dass Menschen, die den beruflichen Anforderungen eher ausweichen und auch wenig Änderungsbereitschaft erkennen lassen, weniger geeignet sind für das Opus Dei. Eine solche Aussage kann im Blick auf die Armen, Schwachen und Bedrängten gewiss zwiespältig werden. Aber die entscheidende Stoßrichtung ist klar. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, dass Escrivá die Mächtigen und Einflussreichen aufsuchen und gewinnen wollte, sondern Menschen mit einer hohen Bereitschaft zum Einsatz und auch zur Veränderung. Das ganze menschliche Leben muss in der Kontemplation wurzeln. Immer wieder sagte Escrivá, die Waffe des Opus Dei sei nicht die Arbeit, sondern das Gebet.

Die Welt selbst wird so für den Laien im strengen Sinn zum Ort der Begegnung mit Gott. Jederzeit und an jedem Ort stehen die Wege der Kontemplation allen offen, die arbeiten. „Alles Wesentliche an der christlichen Berufung bleibt unverändert. Doch neu ist die Weise, sie zu verwirklichen. Nachdem anderthalb Jahrtausende lang das Ordensideal vorherrschte, greift das Opus Dei wieder die Art auf, mit der die Christen der ersten Jahrhunderte ihren Glauben lebten. Ein in mancher Hinsicht gewagtes Unternehmen. Kein Wunder, dass es bei aller Zustimmung auch auf Missverständnisse und Skepsis, ja Ablehnung stieß und stößt.“

Christsein mitten im säkularen im Leben

Wenn man Escrivá verstehen will, muss man immer wieder zu diesem grundlegenden Gedanken zurückkehren. Nur von daher ist es auch verständlich, dass er in relativ kurzer Zeit so viele Menschen ansprach, die mitten im säkularen Leben standen und dennoch Christen sein wollten. Viele haben einen solchen Weg der Heiligung mitten in der Welt gesucht, ihn aber mit den traditionellen Wegen nicht finden können.

Dennoch ist dieser Weg eigentlich nicht etwas Neues. Mit Recht hat der Gründer immer wieder gesagt, dieser Geist des Opus Dei sei „so alt wie das Evangelium – und wie das Evangelium so neu“. Er verweist auf das frühe Christentum. Aber es gibt natürlich auch Akzentuierungen und Vorläufer, die solche Gedanken bereits thematisierten. Man wird hier, wie in allen Lebensprozessen, nicht immer alles mit Zitaten nachweisen können. Escrivá hat sich bestimmt manche Aussagen der Ordensspiritualitäten zu eigen gemacht, z.B. das benediktinische Ethos des „Ora et labora“ („Bete und arbeite“). Dies gilt ganz gewiss auch für das „Gott suchen in allen Dingen“ des hl. Ignatius von Loyola und des Jesuitenordens, aber vermutlich auch für die Spiritualität der Theresia von Lisieux, in der das alltägliche Leben eine besondere Form der Heiligung erfährt. Schließlich darf man nicht vergessen, wie zentral „Heiligung“ im Alten und Neuen Testament ist, besonders auch in der reformierten Tradition.

Bei diesem Vergleich denke ich z.B. an Aussagen der folgenden Art: „Ich versichere euch, wenn ein Christ die unbedeutendste Kleinigkeit des Alltags mit Liebe verrichtet, dann erfüllt sich diese Kleinigkeit mit der Größe Gottes. Das ist der Grund, warum ich immer und immer wieder betone, dass die christliche Berufung darin besteht, aus der Prosa des Alltags epische Dichtung zu machen. Himmel und Erde scheinen sich am Horizont zu vereinigen; aber nein, in euren Herzen ist es, wo sie eins werden, wenn ihr heiligmäßig euren Alltag lebt.“

Escrivá als Vorläufer des Zweiten Vatikanischen Konzils

Escrivá scheut sich nicht, unmittelbar die ganz materielle Wirklichkeit als Feld christlicher Bewährung zu sehen und spricht wiederholt von einer „Materialisierung“ des christlichen Lebens oder auch von einem „christlichen Materialismus“. Wir haben vielleicht heute Schwierigkeiten mit einer solchen Sprache. Aber jeder, der verstehen will, kann diese Sprache deuten und auslegen – was wir ja sonst auch machen.

Ich denke aber auch an die Einschätzung der irdischen Dinge und ihre Autonomie bei Thomas von Aquin, der den Eigenwert der Schöpfungswirklichkeit und das Gutsein der aus den Händen Gottes hervorgegangenen Welt unmissverständlich betont. Man wird aber auch nicht fehlgehen, wenn man an Männer wie Thomas Morus denkt, die ihre Überzeugung aus dem Gewissen mit ihrem Leben besiegelten. Es ist jedoch das Verdienst von Escrivá, dass er mit Entschiedenheit die Ansätze der Tradition aufgreift und daraus wirklich nicht nur eine „Spiritualität für Laien“, sondern eine „laikale Spiritualität“ schafft. In diesem Sinne ist Escrivá ohne jede Frage ein Vorläufer des Zweiten Vatikanischen Konzils. Viele Aussagen des Konzils über die Berufung zur Heiligkeit in der Kirche und zum Glaubenszeugnis in Kirche und Welt haben hier ihre Wurzeln.

Fairness statt Verdächtigungen

Ich will nicht leugnen, dass es in der Vergangenheit da und dort Probleme und Missverständnisse gegeben hat, die freilich auf mehreren Seiten liegen. Aber die spirituelle Herausforderung, die im Opus Dei liegt, darf nicht einfach mit Rückgriff auf diese Verdächtigungen abgewürgt werden. Leider gehen nicht wenige Veröffentlichungen auf das grundlegende Charisma von Josemaría Escrivá überhaupt nicht ein.

Es scheint mir gerade darum ein Gebot der Stunde zu sein, mit Sorgfalt und Fairness das Profil des neuen Heiligen genauer zu betrachten. Wenn das Opus Dei selbst in der Verwirklichung des Werkes etwas falsch gemacht hat oder machen sollte, dann muss man es zuerst gewiss an der Bibel, besonders aber an der Gestalt des Gründers und seiner Vision messen. Alles andere wäre nicht seriös.

Wovon die Zukunft der Kirche abhängt

Die Kirche kann es sich heute nicht leisten, Charismen, die in ihr entstanden und aufgeblüht sind, zu verachten. Sie kann sich auch nicht leisten, Bewegungen dieser Art gegeneinander auszuspielen. Ich bin fest überzeugt, dass wir angesichts der großen Herausforderung des christlichen Glaubens heute alle Kräfte bündeln müssen, um bei aller Ausformung im Einzelnen aus der Mitte des Glaubens heraus ein gemeinsames Zeugnis vor der Welt ablegen zu können. Dies ist gerade auch wichtig in der Stoßrichtung dessen, was Josemaría Escrivá im Blick auf eine „laikale Spiritualität“ wollte. Die Kirche muss die Laien befähigen, inmitten ihrer säkularen Tätigkeit authentische Zeugen des Evangeliums zu sein. Es ist gar nicht möglich, dass der Arm der verfassten Kirche überall hinreicht. Es braucht die Selbstständigkeit aller Christen je an ihrem Ort, um dem Evangelium in allen Feldern unseres Lebens einen Weg zu bahnen und Raum zur Entfaltung zu geben. Davon wird in hohem Maß die Zukunft der Kirche abhängen.

Ich will evtl. vorhandene Probleme nicht verdrängen oder gar verdecken. Aber sie können wirklich nur gelöst werden, wenn wir uns der zündenden Idee im Leben und Wirken des heiligen Josemaría Escrivá stellen.

Freiheit und Verantwortung

So möchte ich mit einer wichtigen Aussage des neuen Heiligen schließen: „Es versteht sich von selbst, dass sich diese Vorstellungen von einem heiligmäßig gelebten Alltag kaum verwirklichen lassen, wenn man nicht im Besitz jener vollen Freiheit ist, die dem Menschen – auch nach der Lehre der Kirche – aufgrund seiner Würde als Ebenbild Gottes zusteht. Die persönliche Freiheit – wenn ich von Freiheit spreche, meine ich natürlich immer eine verantwortungsbewusste Freiheit – besitzt eine wesenhafte Bedeutung für das christliche Leben. – Versteht also meine Worte als das, was sie sind: als Aufforderung, tagtäglich und nicht nur in besonderen Notsituationen eure Rechte auszuüben, ehrlich eure staatsbürgerlichen Pflichten in Politik, Wirtschaft, Universität und Beruf zu erfüllen und mutig die Folgen eurer persönlichen Entscheidungen sowie die Bürde der euch zustehenden Autonomie auf euch zu nehmen. Diese christliche Laienmentalität wird euch dazu befähigen, jede Form von Intoleranz und Fanatismus zu meiden; oder positiv ausgedrückt: sie wird euch helfen, in Frieden mit all euren Mitbürgern zusammenzuleben und das friedliche Zusammenleben in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft zu fördern.“

Die Diskussion Prälat Dr. Christoph Bockamp, Regionalvikar des Opus Dei in Deutschland: Wie kann sich das Christsein im Alltag noch tiefer in das allgemeine Bewusstsein hineinsenken?

Karl Kardinal Lehmann: Zweifellos ist das ein einfaches und sehr oft auch verborgenes Problem für viele Leute. An sich haben sie den guten Willen, als gute Christen zu leben. Viele bringen hohen Einsatz im Beruf, haben ohnehin relativ wenig Zeit für die Familie. Das lässt dann diese Dinge zu kurz kommen, auch wenn man den Menschen Dinge abfordert, die sie in dieser Form nicht oder nicht leicht vollziehen können. Deswegen ist es manchmal zwar bedauerlich, aber sehr verständlich, dass Leute, die man aufgrund ihrer Fähigkeiten gerne etwas aktiver inmitten der Kirche hätte, dies einfach nicht leisten können. Aber da verlangen wir manchmal zu viel und manchmal auch am falschen Platz und im Übermaß. Beim Lesen der Interviews mit Escrivá aus den Jahren 1966/67 ist mir aufgegangen, wie ungeheuer hellsichtig, seherisch er das gesehen hat.

Ich bekenne, dass ich früher von der Kritik von Hans Urs von Balthasar aus den fünfziger Jahren zwar nicht überzeugt, aber angesprochen war. Balthasar kritisierte damals, dass das Opus Dei nichts Neues sei, das mache doch jeder Christ, das sei doch selbstverständlich. Er fügt noch hinzu: Wenn man die Zuwendung zur Welt so stark in die Mitte stellt, muss man dann nicht mit Blick auf die Gefährdungen durch die Welt eine an der Mitte des Glaubens orientierte Spiritualität haben, muss zum Beispiel eine Theologie des Kreuzes nicht eine stärkere Rolle spielen? Ich habe immer wieder in dem kleinen Buch Der Weg gelesen und dachte: Ist das denn im Vergleich mit Ignatius’ Exerzitien so originell, hat es genug Tiefgang, wie es notwendig für eine eigene Spiritualität ist? Aber ich gestehe: Wie Escrivá diese Idee durchgehalten hat – durch alle Schwierigkeiten hindurch, ein Charisma muss ja immer viel leiden –, daran merkt man: So einfach und naiv ist das nicht, was er sagt. Da muss die theologische Reflektion noch tiefer gehen, das geben die Texte Escrivás her. Man sieht, dass die positive Leidenschaft für den Menschen, für die Bewältigung seiner Aufgaben in der Welt als Hintergrund den ganzen Explosivstoff des christlichen Glauben hat. Das müssen mehr Menschen neu entdecken.

Da ist auch der Unterschied zwischen Selig- und Heiligsprechung: Die Heiligsprechung hebt eine solche Gestalt viel stärker in den gesamten Horizont der Weltkirche. Seine weltweite Bedeutung ist damit zu Recht herausgestellt worden.

Dr. Barbara Schellenberger: Der Heilige Vater warnt in seinem Schreiben „Christfideles Laici“ vor zwei Entwicklungen nach dem II. Vatikanischen Konzil, einerseits vor dem Rückzug der Laien in die Sakristei, andererseits vor einer zu starken Verweltlichung. Ich bin seit vielen Jahren im Opus Dei und immer dankbarer, je länger ich dabei bin, weil das, was uns der Gründer mitgegeben hat, uns vor diesen Fehlentwicklungen bewahrt hat. Denn zum einen ist die Welt – der Beruf – unsere Aufgabe, da kann es keinen Rückzug in die Sakristei geben. Andererseits gibt es diese starke geistliche Nahrung, die heilige Messe, die Zeiten des persönlichen Gebetes, den Rosenkranz, die uns wappnen und die eine geistliche Tankstelle für uns sind. Ich habe manchmal den Eindruck, dass ein gewisses Unverständnis des Opus Dei daher rührt, dass diese geistlichen Mittel zu gering geachtet werden.

Kardinal Lehmann: Sie haben ganz recht. Nach dem II. Vatikanischen Konzil haben wir – etwa in der Aufnahme der Konstitution „Gaudium et Spes“ – eine gewisse Leichtfertigkeit erleben müssen. Manche haben nicht gemerkt, dass die stärkere Zuwendung zur modernen Welt darin geendet hat, dass die Fangarme der Welt stärker waren als die eigenen Kräfte, weil man aufgesogen worden ist und sich angepasst hat. Daraus ist nach dem Konzil manche Enttäuschung entstanden. Viele Menschen, die das Konzil bejahen, können nicht übersehen, dass es solche Tendenzen gibt, bis in unsere Verbände hinein.

Wenn man mit diesen Erfahrungen Josemaría noch einmal liest, dann merkt man, dass er eine Spiritualität hat, die das ganz sensibel und sehr frühzeitig im Auge hatte. Daher wird man in einer notwendigen Differenzierung bestärkt. Ich finde es faszinierend, wie er das Vorbild seiner Eltern in seine Gläubigkeit hinein nimmt, die selber ganz anders, theologischer reflektiert ist. Wie ein Mann dieser Art in dieser Zeit sagen kann: Ich verdanke eigentlich meine Berufung meinem Vater und konnte nie besser und schöner beten als mit den Gebeten, die ich von meiner Mutter gelernt habe. Das ist ein ganz konkreter Wurzelboden. Auch dass er so unbefangen sagen konnte: Ich habe Priester verehrt und geschätzt, aber das war nichts für mich, und als ihm dann der Vater sagt: Du musst sehn, ob du das kannst. Das alles bietet ein ganz anderes Bild als die meisten Leute haben, so als ob Josemaría von Anfang an bruchlos in einer bestimmten Frömmigkeit gelebt hätte, ohne ein Ringen, ohne Höhen und Tiefen. All das gehört dazu, wenn es um die Frage des Verhältnisses zur Welt geht.

Dr. Hans Thomas: Ihre Erwähnung von Hans Urs von Balthasar erinnert mich an einen Briefwechsel mit ihm.

Kardinal Lehmann: Ich habe in meiner Freiburger Zeit ein sehr enges Verhältnis zu Urs von Balthasar gehabt. Wir waren zehn Jahre gemeinsam in der Internationalen Theologenkommission. Ein paar Mal haben wir auch über das Opus Dei gesprochen. Dabei sagte er: Ich würde das heute nicht mehr so schreiben. Ich bin mir nicht mehr sicher. Denn warum eigentlich werden hier so viele Menschen angezogen? Damit müsste ich mich noch einmal neu beschäftigen. Er rückte da etwas ab von seiner früheren Äußerung. Ich sage das, weil man heute immer wieder auf ihn rekurriert.

Thomas: Der Artikel von Balthasar von 1963 war für mich der letzte Anstoß, ins Opus Dei zu gehen. In den achtziger Jahren habe ich ihm das auch einmal geschrieben. Damals antwortete er mir, eigentlich habe er früher nur den „Weg“ gekannt. Der Hintergrund für von Balthasars frühe Haltung ist etwas, auf das man im Gespräch oft trifft: Die Leute haben eine Zweiteilung der Welt in die „Vita contemplativa“ und die „Vita activa“ im Kopf. Dann suchen sie innerhalb der „Vita activa“ eine Begründung dafür, wie man das vertiefen kann. Doch unser Gründer hat diese Unterscheidung auf den Kopf gestellt. Er sagte, die Berufung im Opus Dei sei keine aktive, sondern eine kontemplative. Das ist eine Herausforderung, die viele Leute nicht vor Augen haben.

Kardinal Lehmann: Ich unterstreiche das voll und ganz.

Leo-Ferdinand Graf Henckel v. Donnersmarck: Auch wenn man einen Heiligen in erster Linie an seinen Schriften messen darf, so ist es doch bei einem erst kürzlich Verstorbenen legitim, das zu beurteilen, was er während seines Lebens vertreten oder zumindest gedeckt hat. Meiner Erfahrung nach werden immer drei Vorwürfe gegen das Opus Dei erhoben: Erstens, das Opus Dei erhebe einen Totalanspruch auf die Personen, die ihm sozusagen zugelaufen sind. Der zweite Vorwurf lautet, das Opus Dei unter Franco sei lange Zeit eine Stütze des Regimes gewesen. Der dritte Vorwurf ist eher eine Frage: Ich habe mit Menschen zusammengearbeitet, die sich nicht als Mitglieder des Opus Dei erklärt haben. Vielleicht weil sie nicht in den Geruch kommen wollten, zu einer Art Fünften Kolonne des Franco-Regimes zu gehören.

Kardinal Lehmann: Da kann ich nicht auf alles antworten, aber unter uns sind sicher Personen, die das eher können. In der 1983 erschienenen Biografie des anerkannten Historikers Peter Berglar gibt es einige Seiten zu diesem Vorwurf. In der spanischen Literatur wird es noch mehr dazu geben. Man ist nicht auf die Leute zugegangen, weil sie mächtig waren. Man ist vielmehr auf der Suche nach leistungsbereiten Leuten gewesen und ist bei dieser Suche solchen Leuten begegnet. Einige von denen sind zu einfach mit dem Generalbegriff „Technokraten“ abgestempelt worden. Hier spielt die schwierige Beurteilung der ganzen Franco-Zeit eine Rolle. Da gibt es nicht nur Schatten.

Zu dem dritten Vorwurf: Ich habe mich auch manchmal gefragt, warum Mitgliedschaften so diskret behandelt werden. Auch in meinem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger im Oktober habe ich gefragt ob diese „Geheimhaltung“ in Anführungszeichen so notwendig ist. Ich muss aber gestehen, dass ich bei der Vorbereitung des heutigen Vortrages zwei längere Briefe bekommen habe – einer der Autoren sitzt hier unter uns –, die mir erklärt haben, inwieweit es selbstverständlich ist, dass es auch aus Gründen des Datenschutzes eine gewisse Diskretion einfach geben muss. Daher würde ich diesen Einwand heute nicht mehr so formulieren.

Bockamp: Zum Thema Spanien gestehe ich, dass es mich persönlich oft geärgert hat. Abgesehen von einem Urlaub an der Costa Brava bin ich erst nach zwanzig Jahren im Opus Dei mit Spanien in Berührung gekommen. Wir in Deutschland sollten aufgrund unserer eigenen Vergangenheit eigentlich eher etwas bedächtig sein in Aussagen über „Kontamination in der Vergangenheit“.

Unser Gründer wollte seinen Söhnen, die eine politische Karriere machen konnten, bewusst nicht ins Handwerk pfuschen. Er sagte, Freiheit ist eben Freiheit. Wenn man sich in diesem Land überall engagieren kann – und zwar mit Unterstützung des gesamten spanischen Episkopates – habe ich nicht das Recht, dem entgegenzuwirken. Er war sich als weitsichtiger Mann bewusst, dass das später Probleme verursachen würde. Er hat selber sehr unter der Einheitspartei Falange gelitten. Außerdem gab es in Spanien Versuche, alle katholischen Kräfte in einer gesamtkatholischen Partei zu bündeln. Dem erteilte er eine klare Absage. Seine Aufgabe sei es nur, den einzelnen Menschen ein geistliche Bildung zu geben. Diese sollen sich dann engagieren, wo sie wollen. Einige Mitglieder des Opus Dei kamen wegen ihrer Ablehnung des Systems ins Gefängnis, etwa Rafael Calvo Serer, ein bekannter Gegner Francos, andere mussten in die Emigration gehen. Ich will das Franco-Regime nicht bewerten. Ich will nur aufzeigen, dass der Gründer des Opus Dei sich bis zu den letzten Konsequenzen für die politische Freiheit der Katholiken eingesetzt hat.

Der andere Punkt ist die angebliche Geheimhaltung der Mitgliedschaft. Auch das verwundert mich manchmal. Denn hier geht es nicht um Angst oder Nicht-Angst. Es geht um das Selbstverständnis des katholischen Laien. Wenn ein Laie eine persönliche Bindung eingeht, die etwa vorsieht, dass er jeden Tag die heilige Messe besucht, dann ist das seine höchstpersönliche Sache. So würde ein katholischer Laie im Opus Dei nie auf die Idee kommen, in eine Bewerbung bei einer Firma „Mitgliedschaft im Opus Dei“ in seinen Lebenslauf zu schreiben. Auch bei der Bewerbung um ein diözesanes Amt würde er nie auf eine solche Idee kommen. Es ist eine Frage seines Selbstverständnisses, dass er voll und ganz Laie ist. Sie, Herr Kardinal, haben eben sehr klar dargelegt, dass das Selbstverständnis eines katholischen Gläubigen im Opus Dei sich eben nicht aus der Ordensspiritualität ableitet. Ordenschristen führen gewöhnlich hinter dem eigenen Namen die Abkürzung ihres Ordens und heben sich damit etwas ab. Ein Laie kann nur ein Laie sein, wenn er durch und durch er selber ist und für sich selber spricht. Andererseits ist jeder Angehörige des Opus Dei eingeladen, über das zu sprechen, was er auf dem Herzen hat, also auch zu dieser Zugehörigkeit. Wenn sich nun Ihre Bekannten und Freunde dazu nicht geäußert haben, kann ich nicht viel dazu sagen. Wenn ein Mensch apostolisch, missionarisch wirkt – und das sollen ja die Angehörigen des Opus Dei –, dann wird früher oder später jedem in seiner Umgebung klar, wer das ist und was ihn bewegt. Es kann ja auch sein, dass es ein enormer Vorteil ist, vom Opus Dei zu sein. So sagte man mir, in Italien sei das gerade Mode. Man soll für sich selber einstehen.

Kardinal Lehmann: Ich habe jetzt noch einmal die Texte von Escrivá gelesen, und vor dem Hintergrund der eigenen Verantwortung liest man sie tatsächlich anders. Ich war überrascht, dass ich früher nicht gemerkt habe, wie sehr er die Freiheit und die Verantwortung des Einzelnen in der Wahl der Mittel und in der konkreten beruflichen Ausrichtung unterstreicht. Das habe ich zuvor nicht so deutlich gesehen. Das ist auch eine Parallele zu wichtigen Aussagen des II. Vatikanischen Konzils. In „Gaudium et Spes“ wird gesagt, dass katholische Christen dasselbe Ziel im Auge haben, aber die Mittel und Wege verschieden sind, auf denen sie dieses Ziel zu erreichen suchen. Das sei zu tolerieren. An einer anderen Stelle steht, niemand, der sich für einen Weg entschieden habe, solle sagen, das sei die Lehre der Kirche oder es sei der einzige Weg. Das ist eine innere Parallele.

Bockamp: Escrivá hat es auch rundweg abgelehnt, sich für Auszeichnungen gratulieren zu lassen, die einer seiner Söhne bekam.

Kardinal Lehmann: Das ist etwas Neues: Josemaría Escrivá verzichtet auf ein falsches klerikalistisches Führungsmodell den Laien gegenüber. Vielmehr wünscht er in hohem Maße eine Selbständigkeit der Laien, die aus einer vertieften Glaubensbildung heraus ihre Entscheidungen treffen. Er besaß eine große Zuversicht. Escrivá traute den Menschen und der Gnade Gottes einiges mehr zu, als wir das gemeinhin tun. Diese Einheit von Zuversicht, Verantwortung und Freiheit sind neue Elemente einer Spiritualität der Laien. Mir ist vor oder zu seiner Zeit nichts Ähnliches bekannt.

Bockamp: Herr Kardinal, wollen Sie uns noch ein Anliegen mit auf den Weg geben?

Kardinal Lehmann: Ich empfinde es als eine ungeheure Bereicherung, dass es in den Ordensgemeinschaften, in den Säkularinstituten, dass es in der Prälatur Opus Dei diese verschiedenen Charismen gibt und dass der einzelne sehen kann, wo er sich, auch mit seinem Beruf, am besten wiederfindet. Ich hoffe, dass man jetzt nach der Heiligsprechung von Josemaría Escrivá endlich zu den wichtigen Inhalten kommt. Man muss sich jetzt mit den geistlichen Inhalten beschäftigen. Jetzt wird es Zeit, dass die Auseinandersetzung damit ernsthafter wird. Wir haben es jetzt einfacher: Alles was wichtig ist, ist übersetzt. Jetzt muss man es lesen.

Der vollständige Vortrag samt Quellenangaben wurde veröffentlicht bei www.bistum-mainz.de. Der Wortlaut kann per e-Mail beim Informationsbüro des Opus Dei angefordert werden.